Triggerwarnung! Der folgende Text handelt vom Sterben (freiwillig & unfreiwillig) und kann verstörende Wirkung haben. Auf keinen Fall lesen, wenn ihr eine depressive Phase habt, an Depression erkrankt seid oder gar Suizidgedanken hegt (Die Dargebotene Hand: Telefonnummer 143).
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Lasst uns den heutigen Tag als Anlass nehmen, um über Tod und Glauben zu
sprechen. Ich bin in einem aus religiöser Sicht liberalen Elternhaus inmitten
einer dunkelschwarzkatholischen Region aufgewachsen. Meine Teenager-Zeit war
geprägt von Disputen mit Vertretern des katholischen Glaubens und meiner
eigenen Weltsicht, die durch die Nähe zur Natur eher pantheistischer Art Ist
(https://de.wikipedia.org/wiki/Pantheismus).
Der Tod ist in der Natur allgegenwärtig und als ich mein sehr naturverbundenes
Leben im Alter von 18 Jahren mit der 'Zivilisation' eintauschte, in dem ich aus
der Surselva ins Mittelland zog, war der vollständig andere Umgang mit dem Tod
für mich der grösste Kulturschock. Fleisch bekam ich nur noch blutfrei
abgepackt im Laden oder gar schon fixfertig auf dem Teller zu sehen, tote Tiere
wurden auch im Wald so schnell entsorgt, dass Kadaver zu etwas seltenem wurden,
sterbende Menschen lagen weder Zuhause noch waren sie nach ihrem Tod ausserhalb
des engsten Familienkreises aufgebahrt und auch an den Beerdigungen nahm man
nicht teil, wenn man den Verstorbenen nicht persönlich kannte.
Was für ein Unterschied zu meiner Schulzeit in #Rueun, wo jede Bauernfamilie
noch zuhause schlachtete und man so oft wie möglich als Kind dabei mithalf, wo
Beerdigungen noch Pflicht für alle Schulkinder waren, Sterben noch mehrheitlich
daheim stattfand und auch unser eigener Tierbestand mich mehr als genug mit dem
Tod konfrontierte. Jedes Sterben führt zu Trauer und der Umgang damit erachte
ich als eine wichtige Kompetenz, die ich auch meinen Kindern zu vermitteln
versuchte.
Für mich ist also der Tod die logische Konsequenz des
Lebens. Dass er jetzt früher zu mir kommen wird, als erhofft, ist eine
Tatsache, die ich nicht ändern kann. Ich kann mich nur bestmöglich darauf
vorbereiten, meine Angelegenheiten regeln und wichtige Entscheidungen noch selbst
treffen. Für die letzten zwei Punkte bin ich in irgendeiner Form auch dankbar,
denn die Nachlassregelung und Auflösung von Verträgen und Verpflichtungen ist
bei jemandem, der seit 20 Jahren eine Firma hat und aktiv in der Webprogrammierung
und dem Social-Media-Marketing tätig ist, eine wahre Herkules-Aufgabe. Ich bin
froh, dass ich diesen Aufwand meinen Angehörigen abnehmen kann.
Mein strukturierter, sachlicher und aus Sicht der LeserInnen
sicher auch distanziert erscheinender Umgang mit meiner Erkrankung heisst
nicht, dass ich keine Angst davor empfinde, was die Endphase angeht. Dass ich
nicht Bedauern empfinden würde, dass mein Zeitfenster unmittelbar so stark
geschrumpft ist. Ich fürchte mich vor meinen eigenen Schmerzen, davor, dass ich
meine Stärke am Ende vielleicht doch noch verliere, vor den Schmerzen, die ich
meinen Angehörigen zufüge, der Trauer, der ich sie aussetze. Ist ihre
Trauer-Kompetenz ausreichend oder traumatisiert sie mein Tod? Können sie mich
loslassen, wenn der Zeitpunkt gekommen ist? Kann ich loslassen?
Nicht jeder und jede, der an ME/CFS erkrankt, stirbt. Viele
harren jahrelang, jahrzehntelang in einem unglaublich schmerzhaften Zustand
ohne jegliche Selbstständigkeit – von Lebensqualität ganz zu schweigen – aus.
«Wofür?», haben mein Freund und ich uns letzthin gefragt und sind nach einer
sehr kurzen Diskussion zum Schluss gekommen: «Für die Angehörigen.»
Manchmal nimmt einem diese Krankheit aber auch jegliche
Entscheidung ab. Denn auch ME/CFS kann zum Tod führen. Die Hashtags für die
#MECFSbubble für Todesfälle in der Community lauten #MEkills und
#MECFSkills.
Das «Pschyrembel Klinische Wörterbuch» listet im Artikel
«Chronisches Fatigue Syndrom» (www.pschyrembel.de/Chronisches%20Fatigue-Syndrom/K0772)
folgende Todesarten und Lebenserwartungen auf:
·
Anzahl der Todesfälle durch Krebs (insbesondere
Non-Hodgkin-Lymphomen, (https://flexikon.doccheck.com/de/Non-Hodgkin-Lymphom)
und Herzversagen bei CFS-Patienten signifikant erhöht
·
Lebenserwartung von krebserkrankten CFS-Patienten
um 20 Jahre verkürzt (47,8 Jahre versus 70 Jahre)
·
bei Herzversagen Todesalter von CFS-Patienten 25
Jahre niedriger als durchschnittliches Todesalter bei Herzversagen (58,7 Jahre
versus 83,1 Jahre)
Und als häufigste Todesursachen bei CFS-Patienten:
20,1 %: Herzversagen
20,1 %: Suizid
19,4 %: Krebs
11,1 %: Komplikationen durch CFS (z. B. Infektionen,
Medikamentenunverträglichkeit, Nierenversagen, Ateminsuffizienz).
Suizid ist etwas, womit ich mich als #MECFS-Betroffene auch
befasse. Schon bevor ich erkrankte, war für mich klar, dass ich schwere
Krankheiten wie beispielsweise Krebsarten mit schlechten Prognosen oder starke
Organschäden nicht um jeden Preis therapieren würde, dass ich Demenz oder
Morbus Alzheimer nicht bis zum bitteren Ende freien Lauf lassen würde. Denn ich
bin der Meinung, dass nicht alles, was medizinisch machbar ist, auch gemacht
werden sollte. Und jetzt habe ich sogar einen Cocktail von diesen Krankheiten.
Meine Patientenverfügung ermöglicht mir, bei Versagen von Herz, Lunge oder
einem anderen Organ zu sterben, meine Exit-Mitgliedschaft bietet mir einen
Ausweg, wenn die tiefe Lebensqualität unerträglich wird.
Und auch jetzt, in der letzten Phase meines Lebens, bietet mir meine
pantheistische Weltanschauung Trost. Mein Tod ist die logische Folge meines
Lebens und ich werde in der geliebten Natur aufgehen. Alles was lebt, vergeht
auch. Doch noch bin ich hier – für meine Angehörigen, für meine Hunde. Und so
lange ich hier bin und halbwegs lesbare Texte zustande kriege (auch wenn ich
unterdessen viele, viele Stunden dafür brauche), so lange werden ihr von mir
lesen. Wie es ist, mit ME/CFS zu leben und zu sterben. Nicht mitleidheischend,
sondern aufklärend. In der Hoffnung, dass der eine oder die andere mehr
Verständnis für Krankheit oder Lebensende erhält. Und natürlich mit der starken
Hoffnung, dass dem einen oder der anderen diese Krankheit erspart bleibt.
#mecfsawareness #MECFS #normalitätssimulationsintermezzo
#MEkills #StopCovid #LongCovid #LongCovidKills #CovidIsNotOver
(Bild von Gerd Altmann auf Pixabay)
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