Trauerarbeit in Endlosschleife

Angeregt durch die Frage von Susanne Schwenter-Wolff zu meinem gestrigen Post (https://tinyurl.com/2a3o6set) und dem Tweet von Matthias L. befasst sich der heutige Post über die Trauerarbeit, die ME/CFS-Betroffene und deren Angehörige leisten müssen. Matthias hat mir erlaubt, seinen Beitrag «Über die 8 Phasen der Trauer in Bezug auf ein Leben mit #MECFS» zu veröffentlichen:

«Über die 8 Phasen der Trauer* in Bezug auf ein Leben mit #MECFS habe ich auch schon oft nachgedacht und komme oft in Gesprächen darauf zurück. Ein Versuch, sich damit auseinanderzusetzen.
*es gibt viele Modelle und Quellen dazu, hier: E. Kübler-Ross und Stephen Levine

Phase 1: Verleugnung
Der Weg zur Diagnose ist mitunter lang, vor dem Ablauf von 6 Monaten lässt sie sich nicht sichern und selbst danach besteht noch die Möglichkeit der Remission.
#MECFS will auch keiner haben, dem bewusst wird, was es bedeutet. Emotionen werden unterdrückt.

Phase 2: Protest und Wut
Das Erleben, wie einem #MECFS das Leben unter den Füßen wegreißt, ist ein Schock.
Hinzu kommt, nicht Ernst genommen zu werden und keine Hilfe zu bekommen.
Man will es auch selbst nicht glauben und stellt sich dagegen, aktiviert sich in Crashs hinein.

Phase 3: Traurigkeit, Vermissen oder Sehnsucht
Nach dem Schock bricht sich die Traurigkeit ihre Bahn. Betroffene vermissen all das, was ihr eigenes Leben bzw. das Leben überhaupt ausmachte: Spaziergänge, Gespräche, Kochen, Arbeiten...
Ich glaube ganz kann man das nie ablegen.

Phase 4: Angst oder Beklemmung
Wer nachhaltige Zustandsverschlechterung nach einem Crash erfahren hat, der hat selbstverständlich Angst davor, nie mehr gesund zu werden und vor weiteren Verlust.
Dies wird oft verkannt und bietet Raum für die psychosomatische Erklärungsmodelle.

Phase 5: Akzeptanz
Dieser Schritt ist meines Erachtens essenziell: Krankheit und Verlust mental und emotional zu akzeptieren.
Vielleicht ist das auch die Basis, um Pacing betreiben zu können und sich zu stabilisieren, indem man sich nicht gegen die gegebenen Grenzen "wehrt".

Phase 6: Neue Bindungen oder erneute Annäherung
Damit tue ich mich wahrlich schwer. Man kann das alte Leben nicht einfach durch ein neues ersetzen.
Einem Teil der Betroffenen ist es vielleicht noch möglich, sich das eingeschränkte Leben neu zu organisieren, wie ist das aber bei schwerer Betroffenen?
Vielleicht sind es auch "nur" zum Beispiel die neuen Bindungen über Social Media, die man eingeht, um seine Trauer zu bewältigen oder in Schach zu halten.
Oder die Entstehung von Hoffnung auf Forschung und Medikamente, auf Besserung!

Phase 7: Vergebung
Es geht darum, nicht zu einer Geisel der Erkrankung zu werden, auch wieder "etwas geben" zu können.
Ich glaube, hier stößt man mit zunehmender Schwere der Erkrankung wirklich an Grenzen. Die Kraft reicht ja dann nicht einmal für einen selbst aus.

Phase 8: Dankbarkeit
Das klingt zunächst absurd.
Diese Dankbarkeit soll eine Art Finden von Glück in den Dingen, die geschehen, sein.
Anders ausgedrückt ist sie der Schlüssel, nicht in die Depression o. Verzweiflung abzurutschen und eine positive Bindung zum Leben zu haben.

Wenn ich über die Verknüpfung zu #MECFS nachdenke, so fällt mir auf, dass ein jeder Crash wieder neuen Verlust und Trauer auslösen kann. Diese Dynamik ist eine große Herausforderung. Man muss Verlusten vorzubeugen und sich aber auch eine besondere Form von Resilienz aufbauen.

Ich kenne viele Betroffene, die erstaunlich gut mit ihren Verlusten umgehen, auch ganz junge Menschen mit einer beeindruckenden Fähigkeit zur Resilienz. Dahinter steckt immer eine riesige Anstrengung! Und das hat allergrößten Respekt verdient! (Die Realität ist das oft nicht.)

Mit Hilfe und prof. Unterstützung kann das besser gelingen. Leider sind manche einfach zu schwach dafür oder haben keine adäquate Hilfe zur Verfügung.

Es gibt noch zu viel Unkenntnis über #MECFS und über die Abgrenzung von primärer, somatischer Erkrankung und deren Folge-Folgen.

Ein Erfolgsrezept oder gar eine Erfolgsgarantie gibt es nicht. Manche Verlusterfahrungen sind zu mächtig oder in zu großer Häufigkeit. Ganz abgesehen von Traumata, die erst durch die "vermeintliche professionelle Hilfe" oder das "persönliche Umfeld" entstehen.»

Die Originaltweets könnt ihr hier nachlesen: https://twitter.com/LohMatt/status/1646157890351161345

Als ich meinem Freund vorgestern die Tweets zum Lesen gab, sagte er spontan: «Das trifft genauso auf die Angehörigen zu!».

Das Problem: Durch die schubweise Verschlechterung, bei der man immer wieder liebgewonnene Fähigkeiten und Möglichkeiten verliert, findet diese Trauerarbeit in einer Endlosschleife statt.
Seit Februar/März 2022 habe ich bereits viele Verluste betrauert: Schrittweiser Verlust von Effizienz und Multitasking-Fähigkeit, ich erkenne mich selbst nicht wieder; wegen dadurch ausgelöstem Zeitmangel Verabschiedung von der Vorstellung, Consiglio weiter ausbilden zu können; Juli 2022: Abschied von Consiglio, vorübergehende Ausfuhr auf eine Hengstweide/einen Ausbildungsstall in Frankreich, fortschreitende Verschlechterung der Leistungsfähigkeit: Abgabe zahlreicher Arbeiten privat und geschäftlich; die letzte lange Hundewanderung, der letzte Ausritt, die letzte Schlittenfahrt, komplette Aufgabe der Pferdehaltung, die letzte Autofahrt, Ausschreibung des heissgeliebten Subarus, Verlust der Fähigkeit, komplizierte Texte und Filmhandlungen zu verstehen, Verlust der Fähigkeit, Informationen zu verarbeiten, Verlust der Rechtschreib- und Grammatik-Fähigkeiten, Abgabe der Kavallo-Redaktion, Abgabe der Kommunikations- und Website-Mandate, Abgabe der SKG-Mandate inkl. Chefredaktion «Hunde», Liquidation meiner Firma, welche dieses Jahr das 20-Jährige feiert.
Ihr seht also, zu betrauern gibt es genug und ich fühle mich nicht annähernd so stark, wie eure Rückmeldungen bei anderen vermutlich den Anschein erwecken. Es gibt schon Phasen, da liege ich einfach nur im Bett und heule. Manchmal offen vor meinem Freund, aber wann immer es geht ganz alleine, wenn er auf der Arbeit ist. Lang heulen kann ich aber nicht. Die Hunde reagieren nämlich jeweils grad sofort und beide versuchen dann gleichzeitig, mein Gesicht abzuschlabbern. Ich versuche sie daran zu hindern, sie versuchen es dennoch, es entsteht eine spielerische Rangelei, die mich zum Lachen bringt ❤️❤️❤️


(Bild von Susan Cipriano auf Pixabay)

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